Die Idomeni-Tage (7)
Polykastro/Thessaloniki/Polykastro, 27. Mai bis 4. Juni 2016
Ein paar Tage bin ich außer Gefecht gesetzt. Ich möchte mit meiner neuen Kooperationspartnerin und ihrer griechisch-amerikanischen Familie abends in Thessaloniki ausgehen. Nach dem Kirchgang – meine neuen Bekannten sind Baptisten und der Vater Pfarrer – werde ich krank. Unfähig zu irgendeiner Aktion außer Schlafen und Wasser trinken verbringe ich zwei Tage und Nächte im Gästebett einer, mir fast fremden Familie. Mir geht es schlecht und doch bin ich dankbar. Dankbar nicht einer verschmutzten Fabrikhalle ohne Wasser und Toiletten malade sein zu müssen.
Wieder zurück in Polykastro bin ich erleichtert, dass das improvisierte Lager an der E 75 noch nicht zwangsgeräumt ist, wie von den Politikern angekündigt. Meine Freundin aus Aleppo sagt, dass sie mich vermisst habe: „You are my best friend.“ Ich merke, dass es schön ist, vermisst zu werden. Dann kommt das Gewitter. Das vieles reinigt, Neues entzündet und alte Sehnsüchte aus dem Dornröschenschlaf küsst.
Wenige Stunden bevor es donnert, passiert es. Wenige Stunden, bevor zum ersten Mal in meiner Anwesenheit jemand das Klavier im Park Hotel dazu nutzt, um eine Melodie darauf zu spielen. Anstatt auf irgendwelchen Tasten herumzuhauen.
Das Bild am am Horizont wandelt sich. Der Himmel trägt sämtliche Nuancen von Hellblau bis Anthrazitgrau. Wolken türmen sich auf, sie sehen aus wie die aufgeblasenen Backen der Engel von Raffael. Sanft fächert sich die Abendsonne hindurch.
Für den Bruchteil einer Sekunde blicke ich ihm zu lange in die Augen. Wir kennen uns. Flüchtig. Ich weiß noch, dass er sich nie meinen Namen merken wollte. Dass mich das ein bisschen geärgert hat. In diesem Augenblick ist das egal. Er strahlt mich an. Ich strahle zurück. Smalltalk. Ich habe keine Zeit. Gar keine Zeit. Aber dieser Moment ist schön, und dieser Mensch ist schön. In genau diesem Augenblick. Ich bin im Jetzt angekommen. Der Raum, den ich betrete, ist sonnendurchflutet. Und die schwere Tür der Vergangenheit fällt hinter mir zu. Endlich. Eine fast schlaflose Nacht noch schwebe ich ein paar Zentimeter über dem Boden. Und dann falle ich wieder zurück auf die Erde.